Das erste mal ritzen
- davids1987
- 25. Jan. 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Jan. 2024
Es war ein dunkler und kalter Novembertag. Die Schule war an diesem Tag besonders stressig gewesen und auch zu hause gab´s wieder mal Zoff. Diese innere Unruhe, dieser Zorn und die Wut - ich nahm mir ein großes Brotmesser aus der Küchenschublade, ging auf mein Zimmer, schloss die Tür und setzte mich auf den Boden. Ich krempelte meinen Ärmel hoch, setzte die Klinge an meinem Arm an und zog durch - "Oh Nein, was habe ich getan?" Ich war schockiert und entsetzt. Ein ca. 2cm langer und 1cm breiter Schnitt war in meiner Haut. Ich konnte das weiße Fleisch sehen, denn es fing erst kurze Zeit später an zu bluten. Es war in diesem Moment absolut still um mich und diese innere Wut war weg. Dieses Gefühl hielt jedoch nur für den Bruchteil einer Sekunde an. Es wurde verdrängt von Panik und Schmerz. Mein Herz fing an, extrem schnell zu schlagen, mein Mund wurde trocken, ich fing an zu zittern und die Wunde brannte und pochte. Mit der Panik schoss nun auch das Blut in die Wunde. Ich lief ins Badezimmer und hielt den Arm unter kaltes Wasser. Das klare Wasser aus dem Wasserhahn wurde durch mein Blut rot und lief dann in den Abfluss. Ich schaute in den Spiegel und stellte fest, wie mein Gesicht jegliche Farbe verloren hatte. Da die Wunde nicht aufhörte zu bluten, wickelte ich viele Lagen Klopapier um den Arm und zog dann den Ärmel wieder herunter.
Die nächsten Wochen achtete ich darauf, dass niemand meinen Arm sehen konnte. Ich zog keine T-Shirts an, schloss die Tür vom Badezimmer wenn ich mich umzog oder duschen ging, machte keinen Sportunterricht mit und mein geliebtes Schwimmen musste ich auch ausfallen lassen. In diesen Wochen verspürte ich zwar auch wieder den Zorn und die Wut, aber ich war noch so schockiert über das Geschehene, dass ich vorerst nicht nochmal auf diese Art der Bewältigung zurückgriff. Zudem dauerte es ziemlich lange, bis die Wunde verheilt und die Schmerzen weg waren. Leider sollte dieser Schnitt jedoch nicht der letzte gewesen sein...
Obwohl mittlerweile mehr als 20 Jahre seit dem Tag vergangen sind, kann man unter all den Narben vom ritzen, die ich an meinem Körper und an den Armen habe, noch immer diesen ersten Schnitt erkennen. Und ich habe unzählige Narben an meinem Körper.



Ich bereue oft, dass ich mir und meinem Körper so etwas schreckliches angetan und mich selbst zerstümmelt und entstellt habe. Daran werde ich besonders oft erinnert, wenn es Sommer ist oder ich im Schwimmbad bin. Wenn ich Menschen dabei erwische, wie sie entsetzt und schockiert auf meine Narben schauen, sich dann aber peinlich berührt wegdrehen, sobald sie meinen Blick gesehen haben. Ich behaupte, dass fast jeder diese Art von Narben erkennt und weiß, wie sie entstanden sind.
Generell habe ich gelernt, damit umzugehen. Ich schäme mich nicht mehr dafür und sie sind ein Teil von mir.
Das ist jedoch anders im Berufsleben. Gerade bei Kunden oder Lieferanten bekommt mein Selbstwertgefühl einen spürbaren Dämpfer, wenn ich die Blicke sehe. Es fühlt sich an, als wäre ich dadurch weniger Wert als mein gegenüber was natürlich beruflich ein Problem ist. Um dem vorzubeugen, trage ich nun bei beruflichen Terminen ein langes Hemd.
Was aber hätte damals besser/anders laufen müssen, damit ich in meiner Pubertät nicht meinen Körper zerstümmelt hätte?
Ich muss Euch leider enttäuschen - dafür gibt es weder ein Allheilmittel noch ein Patentrezept. So unterschiedlich die Pubertät und das Leben jedes einzelnen ist, so unterschiedlich ist auch jeder einzelne Mensch und seine Bedürfnisse.
Aber es gibt ein paar Bausteine, die die Gefahr langfristig minimieren:
- Selbstvertrauen
- Akzeptanz und Verständnis
- Aufgaben
- Hobbys und Aktivitäten
Selbstverstrauen ist der Schlüssel für so vieles im Leben. Ohne das nötige Selbstvertrauen ist fast keine Aufgabe im Leben zu meistern. Doch das Selbstvertrauen wird in der Pubertät extrem auf die Probe gestellt. Deswegen ist es enorm wichtig, immer wieder daran zu arbeiten und es zu steigern.
Akzeptanz und Verständnis für das Verhalten eines Pubertierenden ist enorm wichtig. Man weiß selbst nicht, was mit einem los ist, warum man sich gerade so verhält. Die Hormone drehen durch und stellen mit einem Dinge an, die man eigentlich gar nicht möchte. Und gerade deswegen sollte jeder dafür Verständnis haben.
Aufgaben und Verantwortung können große Auswirkungen auf das Selbstvertrauen haben. Und nebenbei halten sie einen auch noch von dummen Ideen oder negativen Gedanken ab.
Hobbys und Aktivitäten machen dich zufriedener und ausgeglichener. Wichtig ist, dass es dir Freude bereitet und dich gleichzeitig auch absolut fordert und auspowert.
Was aber, wenn du nun doch in die Situation kommst, in der dich deine negativen Gefühle und die Wut überkommen und du dich selbst verletzen willst?
Ich gebe dir den Rat, so schnell es geht aus dieser Situation zu flüchten, wie auch immer es dir gerade möglich ist. Zum Beispiel kannst du sofort deine Schuhe anziehen und rennen - so schnell du kannst. Du wirst merken, dass dir die Luft wegbleibt und deine Beine anfangen zu brennen. Und dann solltest du es dieses mal geschafft haben. Dein Körper ist ausgepowert und kribbelt überall und in deinem Kopf sollten weder negative Gedanken noch Zorn oder Wut sein.
Fazit
Die Gefühle und Emotionen, die während der Pubertät alles aus dem Gleichgewicht bringen, können uns zu unkontrollierbaren Reaktionen führen. Bei mir hat dies dazu geführt, dass ich mich selbst zerstümmelt habe. Es gab danach Zeiten, in denen habe ich mich abgrundtief dafür gehasst, dass ich mir das angetan habe und es gab Zeiten, in denen habe ich mich dafür geschämt und wäre oft am liebsten im Boden versunken. Selbst heute, fast 25 Jahre später, gibt es noch immer Situationen, in denen es mir unangenehm ist und mein Selbstwertgefühl darunter leidet. Sei es im privaten oder geschäftlichen Umfeld.
Die Schnitte die man sich zufügt werden ein Leben lang als Narben sichtbar bleiben!!! Sie erinnern selbst beim Blick in den Spiegel an diese Zeit. Sei also achtsam mit dir, deinem Umfeld und deinem Körper - du hast nur diesen einen!
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